Es ist nicht das richtige Sitzen, es ist das Sitzen an sich!

by SportsNow

Dieser Beitrag ist ein Gastbeitrag von Mariette Inderbitzin, Kommunikationsverantwortliche des Berufsverbands für Gesundheit und Bewegung Schweiz (BGB).
https://www.bgb-schweiz.ch/dienstleistungen/verbandszeitschrift-bewegung-gesundheit/

In der Schweiz werden 80 Prozent der Gesundheitskosten von sogenannten nichtübertragbaren Krankheiten verursacht. Dazu gehören Erkrankungen am Bewegungsapparat wie Osteoporose, Arthrose, Arthritis oder Rückenleiden. Gemäss Schätzungen leiden zwei Millionen Schweizer an einer muskuloskelettalen Krankheit. Wie kommt das? Und was können wir dagegen unternehmen? Wir haben nachgefragt bei Dr. Petra Mommert-Jauch, Gesundheitswissenschaftlerin, internationale Referentin und BGB-Dozentin. Für sie ist klar: Es braucht Prävention, Prävention und noch mehr Prävention. 

Bewegung und Gesundheit: Im Bundesamt für Gesundheit beschäftigt sich eine kleine Abteilung mit den nichtübertragbaren Krankheiten NCD. Mittels der NCD-Strategie sollen die Auslöser von nichtübertragbaren Krankheiten bekämpft und längerfristig die damit verbundenen Kosten reduziert werden. Kann das gelingen und wenn ja, wie?

Dr. Petra Mommert-Jauch: Ganz wichtig ist: Es braucht viel mehr Aufklärung. Aufklärung über die Bedeutung und die katastrophalen Auswirkungen einerseits des Sitzens, andererseits von Stress. Über 80 Prozent der Rückenerkrankungen haben keine körperlichen Ursachen. Jedoch können sich Körperstellungen – ich spreche hier vor allem von einer gebeugten Haltung – auf die Psyche auswirken. Ich will damit sagen: Das Sitzen als solches ist eigentlich das grosse Problem für uns Menschen!

Was passiert denn, wenn wir sitzen?

Sofort nach dem Hinsetzen wird die elektrische Aktivität der Muskeln reduziert, die Kalorienverbrennung wird auf eine Kilokalorie pro Minute gesenkt. Zum Vergleich: Beim Gehen verbrennt ein Mensch je nach Geschlecht und Gewicht drei bis sechs Kilokalorien pro Minute. Jetzt muss man sich vorstellen: Schon nach einem Tag Sitzen reduziert sich die Insulinaktivität um 89 Prozent. Das bedeutet ein erhöhtes Risiko für Fettleibigkeit und Typ-2-Diabetes, zwei wichtige Komponenten, die sich auch auf den Bewegungsapparat auswirken. Und nach zwei Wochen sitzender Tätigkeit steigt das Risiko für koronare Herzerkrankungen, Gewichtszunahme, signifikanten Muskelabbau, verringerte Sauerstoffaufnahme-Kapazität. Nach zehn bis zwanzig Jahren Sitzen während mehr als sechs Stunden pro Tag verkürzt sich unsere Lebenszeit um sieben Jahre!

Gilt das auch für Personen, die eine sitzende Tätigkeit ausüben, jedoch regelmässig zum Sport gehen?

Das ist ja das Katastrophale! Auch eine einstündige Fitness-Einheit pro Tag kann acht Stunden Sitzen nicht kompensieren. Wesentlich ist, dass diese «Sitzerei» immer wieder unterbrochen wird. Der Körper soll sich nicht auf das Sitzen einstellen können. Man muss den Leuten begreiflich machen, dass sie mindestens einmal in der Stunde aufstehen müssen. Früher hatten wir gedacht, Rückenleiden seien ein reines Problem des Bewegungsapparates. «Der Rücken leidet unter falschem Sitzen», hiess es. Aber es ist nicht das falsche Sitzen, es ist DAS SITZEN an sich. Bewegungslosigkeit kann nicht kompensiert werden! Auch nicht, wenn wir nach der Arbeit eine Stunde ins Fitness gehen.

Also müssen wir eher bei unserem Arbeitssystem ansetzen? In der Schweiz sind Bürozeiten von achteinhalb Stunden die Regel.

Ganz genau! Die Konsequenzen sind einfach noch nicht richtig aufbereitet und kommuniziert. Jeder weiss etwas über das Sitzen und über Stress. Aber in welcher Konsequenz sich das schlussendlich äussert, ist, so glaube ich, den Wenigsten so richtig bewusst, leider auch unseren Politikerinnen und Politikern nicht. 

Welches ist die häufigste Erkrankung am Bewegungsapparat? 

Am häufigsten kommen Rückenleiden vor, vor allem Verspannungen. Eine Verspannung bedeutet erst einmal, dass ein Sauerstoffdefizit vorhanden ist. Im Sitzen beispielsweise muss die Muskulatur hart arbeiten, bekommt jedoch für die statische Haltearbeit zu wenig Sauerstoff. Dies ist der eigentliche Auslöser für Verspannungen. Also ist der Sauerstoff wesentlich.

Wie bekommt die Muskulatur mehr Sauerstoff?

Nicht indem man sitzt und atmet, sondern indem man sitzt und sich bewegt. 

Das müssen Sie genauer erklären. Weshalb bekommt meine Muskulatur durch die Atmung zu wenig Sauerstoff?

Die Muskulatur sorgt wie eine Pumpe dafür, dass der Sauerstoff durch den Körper transportiert wird. Das Atmen ist eine Selbstverständlichkeit. Aber dass die Muskeln zu Sauerstoff kommen, ist nicht selbstverständlich. Nehmen wir das Bild des Opernsängers und des Marathonläufers: Obwohl beide eine riesige Menge an Sauerstoff in ihre Lungen aufnehmen können, ist es beim Marathonläufer so, dass der Sauerstoff auch im Körper genutzt werden kann, beim Opernsänger weniger. Bei einer Joggingrunde wird der Opernsänger dem Marathonläufer ziemlich sicher hinterherhinken. Er kann zwar viel Sauerstoff in den Lungen aufnehmen, ist sich jedoch nicht gewohnt, diesen an die Muskulatur im Körper zu verteilen.

Die Ursache für die vielen Leiden am Bewegungsapparat, vor allem für Rückenleiden, liegt also vor allem im Bewegungsmangel und nicht bei der alternden Bevölkerung.

Genau. Die alternde Bevölkerung ist nicht die Ursache. Bei älteren Menschen haben wir die Themen Alzheimer und Krebs. Für Erkrankungen am Bewegungsapparat sind Stress, Sitzen, Bewegungslosigkeit und Rauchen die Auslöser. Diese vier Themen betreffend den Rücken massgeblich.

Was hat Rauchen mit dem Rücken zu tun?

Rauchen macht ein schlechtes Bindegewebe. Die Bandscheiben werden porös. Deshalb haben auch schon junge Leute Bandscheibenvorfälle. Es hat also mit dem Lifestyle zu tun. 

Beim Lifestyle können wir Bewegungsfachleute ansetzen. Der Zertifikatslehrgang Rückentrainer BGB wird zurzeit neu aufgegleist. Was wird anders?

Im Moment kann ich dazu nicht viel sagen. Wir stecken noch inmitten der Planungsphase.

Wird es wieder ein Modul Embodiment geben?

Ja, das Modul Embodiment wird so angeboten wie bisher. Weil eben über 80 Prozent der Rückenerkrankungen ihre Ursache nicht im körperlichen Bereich haben, sondern eher auf der psychosomatischen Ebene. Das heisst nicht, dass wir alle in die Psychotherapie müssen. Wir können durchaus dafür sorgen, dass wir stressige Situationen früher erkennen und damit umzugehen lernen. Somit leiden wir weniger unter Verspannungen und dadurch weniger an Rückenerkrankungen. 

Was geben Sie der Schweiz für einen Tipp im Kampf gegen Erkrankungen am Bewegungsapparat?

Prävention, Prävention, Prävention! Diesen Tipp würde ich nicht nur der Schweiz, sondern auch Deutschland mitgeben. Beginnen sollten wir mit der Prävention bereits in den Kindergärten und dann vor allem in den Schulen: Wir müssen Sitzalternativen schaffen, bewegtes Lernen (wie es im Übrigen seit langer Zeit von Neurowissenschaftlern gefordert wird) einführen und Gesundheit als Fach mit Notengebung in den weiterführenden Schulen einrichten. Im Erwachsenenbereich würde ich auf jeden Fall mehr Aufklärung zum Thema Sitzen und Stressabbau sowie entsprechende Kurse anbieten. Zum Beispiel «sit up versus sit down». Dabei sollte der Transfer in den Alltag nicht vergessen gehen. Bei diesen Kursen ist es wichtig, dass man den Teilnehmenden etwas mitgibt, das sie dann in ihrem persönlichen Alltag umsetzen können. Die Arbeits- und Homeoffice-Plätze würde ich rigoros umstellen, und zwar ergodynamisch, nicht ergonomisch. Also bewegtes Sitzen, nicht nur die Anleitung, wie ich sitzen soll. Wesentlich ist, ich wiederhole, das Sitzen zu unterbrechen. Innerhalb jeder Stunde müssten die Leute mindestens einmal aufstehen, vitale Pausen machen und Meetings im Gehen. Diese Dinge müssen aggressiv kommuniziert werden. Denn ohne Bewegung geht der Mensch ein, wie eine Blume ohne Wasser.

Bewegtes Lernen – Projekt Purzelbaum Schweiz

Purzelbaum verankert mit einfachen und praxisnahen Mitteln vielseitige Bewegung, ausgewogene Ernährung und ressourcenstärkende Angebote im Alltag von Primarschulen, Kindergärten sowie Kindertagesstätten und Spielgruppen. Purzelbaum wird heute bereits in 23 Kantonen von kantonalen Fachstellen in Zusammenarbeit mit Purzelbaum Schweiz umgesetzt.